In the Mix: Billie Eilish – Infinite Bad Guy

Screenshot „Infinite Bad Guy“

„Infinite Bad Guy“ ist ein interessantes Projekt und eindrucksvolles Zeugnis der digitalen Remixkultur: Basierend auf dem einschlägigen Riesenhit von Billie Eilish (mehr als eine Milliarde Klicks allein auf Youtube) sind dutzende, vermutlich sogar hunderte Remixes und Cover-Versionen entstanden, die größtenteils bei Youtube zu finden sind. „Infinite Bad Guy“ sortiert und mischt die Versionen zusammen, die Genres verändern sich, aber die Geschwindigkeit bleibt.

“Bad Guy” by Billie Eilish has inspired thousands of fans to cover the song on YouTube. Their versions are amazing to watch, spanning almost every country, language, and genre. We built this A.I. experiment to celebrate them, and see what would happen if they could all play together. It’s an infinite music video, weaving together an ever-expanding collection of thousands of covers. Machine learning keeps all these covers on the same beat and lets you jump from video to video seamlessly.

Das Ganze scheint ein Projekt von Youtube Music und Google AI Experiments zu sein, wobei ich noch nicht herausgefunden/kapiert habe, was das mit AI und Machine Learning genau zu tun hat. Vielleicht auch nur das Label, damit es sich besser klickt.

Mich würde zudem interessieren, ob Billie Eilish und ihr*e Co-Songwriter*in bzw. ihr Verlag für die Coverversionen monetarisiert werden.

Zu Daft Punk „Get Lucky“ gab es vor ein paar Jahren eine ähnliche Remix-Dynamik; dazu habe ich bei iRights.info 2016 einen Artikel verfasst, in dem ich die besondere Beziehung zwischen Original und Kopien in diesem Fall erläutere.

Zehn Jahre „Jäger und Sampler“-Blog / Zehn mal Remixkultur

Im Juni 2010 bin ich mit dem Blog „Jäger und Sampler“ online gegangen. In diesen zehn Jahren ist viel passiert. Viel viel. Ich will hier nicht mit Rückblicken langweilen (auch mich selber nicht), daher beschränke ich mich darauf, zehn interessante Beiträge aus der großen weiten Welt der musikalischen Remixes zu posten und mit ein paar Kommentaren einzuordnen, was sie bedeuten. Damit meine ich: für was sie im Bereich des Remixens stehen, zum Beispiel für welche Subgenres oder Techniken. Die Reihenfolge spiegelt freilich keine Wertung wider, zeigt vielleicht eher die Genese und Vielfalt der Remixkultur in der Musik. Los geht’s!

01/10 Das klassische Mashup

Das klassische Mashup wirft (mindestens) zwei Musikstücke zusammen, die genrehaft/stilistisch eigentlich nicht nahe beinander liegen, aber in der Zusammenführung doch gut zusammen passen, im besten Falle einen irritierenden Effekt oder ähnliches hervorrufen. Der Musik- und Rechtswissenschaftler Frédéric Döhl nennt das Prinzip „maximale Transformation bei minimaler Manipulation“ und ich finde, das trifft das Phänomen sehr gut. Ein sehr gutes Beispiel und oft zitiertes Beispiel für das klassische Mashup ist das 2002 erschienene „A Stroke of Genius“ (übersetzt: „Ein Geniestreich“), in dem die Rockband The Strokes mir Christina Aguilera gekoppelt werden: Schneller, rauer Gitarrenrock trifft auf langsames Liebeslied. Klingt komisch? Klingt auch komisch. Aber irgendwie auch sehr gut.

Gleiches Prinzip, anderes Beispiel: DMX vs. Tears for Fears:

02/10 Mashup – mit besonders ähnlichen Quellen

Vom DJing weiß ich, dass manche Übergänge besonders dann gut werden, wenn die vermixten Tracks sich strukturell sehr ähnlich sind, gleicher Stil, gleiches Genre, gleiches Tempo, usw. So auch hier, im ultimativen TripHop-Mashup:

03/10 Das fortgeschrittene Mashup. Oder auch: Remix eines Mashups, das auf Samples basiert

Das fortgeschrittene Mashup ist etwas komplizierter in seiner Herstellung, das zeigt dieses Beispiel sehr gut: „Love Story“ ist ursprünglich ein Track von Layo & Bushwacka, das ein markantes Nina Simone-Sample und eine mindestens genauso charakteristische Bassline von Devo sampelt. Das Stück wurde dann von Tim Deluxe auftragsweise remixed; in einer zweiten Remix-Version legte Tim Deluxe zusätzlich noch das Acapella von „Tomorrow“ darüber. Das funktionierte schon recht gut, aber Bushwacka machte dann trotzdem nochmal eine eigene Version von dem sample-basierten Remix-Mashup, vermutlich auch um sie richtig zu lizenzieren. Diese Version wurde ein Riesenhit in Großbritannien.

04/10 Mashups mit vielen Quellen, aber niedriger Referentialität

Das Prinzip des fortgeschrittenen Mashups lässt sich natürlich noch viel weiter ausdehnen und vertiefen: Mehr Quellen benutzen (so wie dieser Klassiker von Osymyso mit 101 Intros), aber diese kürzer und rhythmischer einsetzen, so dass sie nicht als eindeutige Zitate, sondern eher als Anspielungen mit neuer Funktion erkennbar werden. Diesen Ansatz veranschaulicht auch das Beispiel „Pop Culture“ von Madeon, der dutzende Samples im Daft Punk-Stil kunstvoll miteinander verschraubt. Eine chronologische Auflistung der benutzten Samples und damit auch ein Hinweis auf die viele Arbeit, die das Stück erforderte, findet sich in diesem hervorgehobenen Kommentar.

05/10 Kompositorische Mashups

Zugegeben: Mir fällt gerade nur ein Beispiel für kompositorische Mashups ein, nämlich das unten verlinkte. Gibt es noch mehr? Dann gerne in die Kommentare damit. Der Gedanke des Mashups wird hier auf klassische Klaviermusik übertragen; es geht also nicht primär um die Aufnahme einer Pop-Komposition, sondern mehr um die Komposition an sich, die mit anderen Kompositionen vermengt wird.

06/10 Popmusik auf klassischen Instrumenten gespielt (8-Track-Video)

So weit, so gut. Man kann das aber natürlich noch weiter drehen. Was passiert, wenn man eine Komposition, die eigentlich für den Popbereich fabriziert wurde, auf klassische Instrumente überträgt? Auch dann entsteht ein interessant-irritierender Effekt. In diesem Fall das „Knight Rider“-Theme am Cello. Die zweite Besonderheit hier: Die Aufnahme ist gespielt von einer einzigen Person – der tollen Samara Ginsberg, die das Prinzip noch auf weitere Stück anwendet -, die das Stück in acht Spuren zerlegt, diese nacheinander aufgenommen und dann im Video zusammengeschnitten hat. Erinnert einerseits an Selbstaufnahmen mit vier oder acht Spuren, spielt aber andererseits auch mit der Gleichzeitigkeit durch die Videoaufnahmekopien – eine Idee, die in 07/10 gleich wichtig werden wird.

07/10 Zeitverzögerte Loops als stilistisches Merkmal benutzen

Mir gehen langsam die Bezeichnungen aus… Aber gut, wie dem auch sei. In 06/10 wird eine technische Unzulänglichkeit zu einem ästhetischen Merkmal aufgewertet. Das ist ein Prinzip, das in der Kunst und Popkultur öfter mal angwendet wird. Die Band The Academic nutzt die Zeitverzögerung von etwa zehn Sekunden bei Facebook-Livestreams und loopt sich auf diese Weise selber in der Video- und Audiospur. Das Prinzip lässt sich ohne Anschauungsmaterial nicht gut erklären, aber in diesem Video wird es mit den verschiedenfarbigen Layern toll dargestellt:

08/10 Selbst-Looping

Loopen geht natürlich nicht nur mit musikalischen Ausschnitten, sondern auch mit Geräuschen und selbst aufgenommenen Rhythmen.

09/10 Dur-Moll-Spielereien

Keine Form von Remixing im engeren Sinne, aber mit verstörenden Effekten. Von Moll und Dur wechseln oder andersherum. Dann klingt Nirvana auf einmal wie Weezer und Pharell gar nicht mehr so happy, sondern traurig.

10/10 Sound-a-like

Gerne in der Werbung eingesetzt, wenn Lizenzierungen misslingen oder auch gar nicht erst angestrebt werden: das Sound-a-Like. Man versucht so zu klingen, wie ein bestimmtes Vorbild, aber eben nicht als perfekte Kopie, sondern nur in Anlehnung. So zum Beispiel das hier:

Noch eine Ecke weitergetrieben wird das Sound-a-Like in meinem letzten Beispiel: Nämlich wenn mit den Samples aus anderen Stücken ein bestimmtes Stück nachgespielt wird. In diesem Falle „Golden Brown“ von den Stranglers nachgespielt mit den Samples aus „Take five“ von Dave Brubeck – der 5/4-Takt musste dafür natürlich gerade gemacht werden:

Mal sehen, was in den nächsten zehn Jahren Remixkultur passiert – vielleicht kommt 2030 dann ein Post mit den besten zehn Originalen 😉

Neue Publikation: „Originalität und Viralität von (Internet-)Memes“

Mein guter Freund und Kollege Lorenz Grünewald-Schukalla und ich interessieren uns schon länger für die Entstehung und Verbreitung von Memes. Umso mehr freuen wir uns, dass wir diese Woche eine neue wissenschaftliche Publikation zum Thema „Originalität und Viralität von (Internet-)Memes“ als Sonderausgabe bei  „kommunikation @ gesellschaft“ vorlegen können.

Gemeinsam mit Michael Servatius organisierten wir 2016 eine sehr produktive und spannende Tagung mit dem Titel „One does not simply“ am Graduiertenkolleg „Innovationsgesellschaft heute“ der TU Berlin, auf der einige Beiträge der Sonderausgabe bereits präsentiert und diskutiert wurden. Das Vorhaben, eine eigene Sonderausgabe bei „kommunikation @ gesellschaft“ zu veröffentlichen, wurde von Jan Schmidt und seinen Kolleg:innen von Anfang an unterstützt und während des gesamten Prozesses sehr produktiv begleitet.

Es ist toll, dass wir zehn hervorragende Beiträge unserer Kolleg:innen zu diesem Thema veröffentlichen können, alle mit eigener Perspektive, Theorie und Methode in Bezug auf das Phänomen, online wie offline. Die Beiträge sind als Open Access-Artikel bei SSOAR gehostet und entsprechend leicht als PDFs zugänglich.

Georg Fischer und Lorenz Grünewald-Schukalla (Hrsg.): Originalität und Viralität von (Internet-)Memes

Georg Fischer (Berlin), Lorenz Grünewald-Schukalla (Berlin/Hannover)
Editorial: Originalität und Viralität von (Internet-)Memes (pdf)

Aufsätze:

Lorenz Grünewald-Schukalla (Berlin/Hannover), Georg Fischer (Berlin)
Überlegungen zu einer textuellen Definition von Internet-Memes (pdf)

Stephanie Dreyfürst (Frankfurt am Main)
Vom Emblem zum Meme. Oder wie aus einem gelehrten Zeitvertreib der Frühen Neuzeit ein Internetphänomen der Gegenwart wurde (pdf)

Jana Herwig (Wien)
Viralität als Sonderfall. Über Selfies, Serialität und die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation im Social Web (pdf)

Michael Johann (Passau), Lars Bülow (Salzburg)
Die Verbreitung von Internet-Memes. Empirische Befunde zur Diffusion von Bild-Sprache-Texten in den sozialen Medien (pdf)

Simon Moebius (Lüneburg)
Humor und Stereotype in Memes. Ein theoretischer und methodischer Zu-gang zu einer komplizierten Verbindung. (pdf)

Sascha Oswald (Hildesheim)
„Try not to cry“ – Memes, Männlichkeit und Emotionen. Zur Entstehung von Affektstrukturen in digitalen Bildpraktiken (pdf)

Sebastian Baden (Mannheim)
Der „Memplex“ Terrorismus (pdf)

Essays:

Giannina Herion (Berlin)
Belanglose Bilder – Vom Viral zum Internet-Mem (pdf)

Konstantin Hondros (Duisburg)
Zwischen Realität und Virtualität – Memet_innen im Schwebezustand des Doing Meme (pdf)

Interview:

Oskar Piegsa (Hamburg), Lorenz Grünewald-Schukalla (Berlin)
WANN IST EIN MEME EIN MEME? Ein E-Mail-Austausch anlässlich der plötzlichen Popularität des Run-DMC-Logos (pdf)

Mixed Feelings: Britischem DJ droht Haftstrafe in Tunesien wegen Gebetsruf-Sample

Türkisches Minarett, fotografiert von Riccio, lizensiert unter CC BY-NC-SA

Verschiedene Medien berichten, dass dem britischen DJ Dax J. eine einjährige Haftstrafe in Tunesien droht, sollte er in das Land einreisen. Hintergrund ist, dass Dax J. Ende März bei einem Festival in Tunesien einen Track spielte, der ein 20-sekündiges Gebetsruf-Sample enthält das Gebtsruf-Sample live in den Track einblendete und  damit remixte. Das sorgte im Publikum, bei den Festivalveranstaltern und Behörden allerdings für gemischte Gefühle: Dax J. wurde dazu aufgefordert, den Track abzubrechen und etwas anderes zu spielen. Das Festival distanzierte sich außerdem von dem DJ. Wegen „Verletzung der guten Sitten“ und Erregung öffentlichen Ärgernisses wurde der Clubmanager in Untersuchungshaft gebracht und der Club bis auf Weiteres geschlossen. Der DJ erhielt auch Morddrohungen von wütenden Fans, befindet sich mittlerweile aber bereits außerhalb Tunesiens. Seinem Tourkalender nach zu urteilen, spielt er zahlreiche internationale Gigs.

Hier ein Video von der betreffenden Szene:

Das hier müsste das corpus delicti sein (ab ca 3:50 geht das Sample los):

Tja, jetzt haben wir den Salat. Das Problem hat glücklicherweise nicht die Ausmaße wie bei Charlie Hebdo vor zwei Jahren. Trotzdem ist es ein lehrreiches Beispiel über das Verhältnis von Religion und Kunst(freiheit), über die Hoheit zur technischen Reproduzierbarkeit von Klang und die symbolische Ebene von Samples. Auf dem Gebetsruf, dem Adhan, liegt sozusagen ein informeller, religiöser Kopierschutz, da er nur von bestimmten Personen und in bestimmter Weise öffentlich aufgeführt werden darf – als Remix oder in Form eines Samples eben nicht, wie dieser Fall zeigt. Der Export der Technokultur mit unbedarftem Sampling und beliebigen Referenzen klappt nicht überall reibungslos, hier stößt die Entwicklung deutlich an religiöse Grenzen. Die Aneignung durch Sampling führt in Deutschland zwar eher zu urheberrechtlichen und monetären Verwicklungen, in manchen muslimischen Ländern gibt es aber eben auch eine (sehr dominante) religiöse Dimension, wer wann welche Klänge reproduzieren darf.

Auch wenn Dax J. sich hier keine Gedanken über religiöses Sample-Clearing gemacht hat, bin ich mir sicher, dass es seiner Karriere nicht schaden wird. Zahlreiche Bekundungen unter seinem kürzlich veröffentlichten Entschuldigung legen nahe, dass seine Anhängerschaft mehrheitlich auf seiner Seite ist und sogar wächst. Bleibt eher zu hoffen, dass dieser Fall nicht zur Verschärfung religiöser Spaltung beiträgt. Morddrohungen etc. gehen natürlich gar nicht! Auch viele westliche Online-Kommentare unter den Videos und an anderen Stellen zeigen das Fehlen von Toleranz, die selbst gerne in anderen Zusammenhängen eingefordert wird. Dass so ein Gebetsruf-Sample religiöse Gefühle verletzt, zu Gefängnisstrafen und Morddrohungen führt, ist mir als weißer Mittelschichts-Berliner mit DJ-Hintergrund auch höchst unverständlich und fremd, aber ich finde, es sollte kein Grund sein, sich über Religion zu stellen oder gar ein ganzes Land als „dreckig“ zu beschimpfen. Damit entlarvt man vor allem Unreflektiertheit in Bezug auf das eigene Verständnis von kultureller Hegemonie.

Sprichwörter-Mashups

Das Schöne an Remixkultur ist ja, dass bisher Unverbundes so verbunden wird, dass daraus etwas Neues, Bemerkenswertes, Überraschendes, Seltsames entsteht. Und das geht auch mit Sprichwörtern und Redewendungen. Hier mal ein paar, eher zufällig entstandene Beispiele aus meinem Freundeskreis:

Der schimpft ja wie ein Schluckspecht!

Das ist nicht auf meiner Kuhhaut gewachsen!

Der stete Wermutstropfen, der den heißen Stein zum Überlaufen bringt.

Die letzte ist übrigens inspiriert von einem Reim von Dendemann („Dendelude III“):

Denn während Du und Deine Crew wie’n müder Haufen klingen, bin ich der Tropfen, der den heissen Stein zum Überlaufen bringt.

Wer kennt noch mehr?

Nachtrag 24.2.16: Ich wurde auf den Sprichwortrekombinator aufmerksam gemacht. Der hat mir gerade diese Goldstückchen ausgespuckt:

Was du nicht willst, das man dir tu, kann noch werden.

Das Leben ist das halbe Leben.

Und dieses hier wurde mir auch zugetragen. Das find ich auch sehr schön:

Morgenstund ist aller Laster Anfang.