Nasse Fische im Internet: Mysteriöser Post-Punk, Roter Ford Taunus

„Das Internet vergisst nicht“ ist ein oft zitierter Satz, der auf die allermeisten digitalen Objekte im Netz zutreffen mag – sofern sie nicht absichtlich entfernt und aussortiert werden, wie beispielsweise beim Techno Viking oder bei Bettina Wulf.

Damit das Internet nicht vergessen kann, muss es aber erst einmal wissen, um in der Metapher zu bleiben. Damit meine ich, dass das Internet auf nicht digitalisierte, nicht indizierte oder anderweitig nicht detektierbare Objekte nicht zugreifen kann.

Im Umkehrschluss heißt das: Nicht alles kann gefunden, aufgespürt, rekonstruiert werden, wenn bestimmte Personen, Organisationen oder Informationen mit Schlüsselfunktion ihr Wissen nicht zur Verfügung stellen – aus welchen Gründen auch immer.

Nasse Fische im Internet – Zwei Netz-Fundstücke zu digitalen Suchaktionen

Ich will das Problem an zwei „nassen Fischen“ demonstrieren, die ich beide seit einiger Zeit verfolge. Im Roman von Volker Kutscher mit dem gleichen Titel, der sich mit Verbrechen im Berlin der 1930er Jahre beschäftigt, sind „nasse Fische“ ungelöste Fälle, die als Akten im Schrank hängen und ohne Schlüsselinformationen nicht mehr weiter bearbeitet und aufgeklärt werden (können). Eingeführt wurde die Formulierung vom historischen Polizeikommissar Ernst Gennat, wegen seiner Körperfülle von Zeitgenossen mitunter als „Der volle Ernst“ bezeichnet.

Nasse Fische im Internet sind für mich Rätsel, die auch unter kollaborativer Beteiligung und digitaler Anstrengung von vielen Menschen, die Hinweise zusammentragen und Fakten prüfen, gar nicht oder nicht restlos aufgeklärt werden können.

Das ist faszinierend auf der einen Seite, weil es mich daran erinnert, dass sich manches Wissen nicht innerhalb von Sekunden sowie mit Unterstützung von Suchvorschlägen finden lässt. Und es fasziniert mich andererseits, weil die digitalen Werkzeuge und Mechanismen der Detektion inhärente Grenzen haben, wenn ihnen die notwendigen maschinenlesbaren Informationen zum Abgleich fehlen.

Fisch Nr. 1 ist ein Pop-Song aus den 1980er Jahren, dessen Ursprung nicht geklärt werden kann; Fisch Nr 2. ein Roter Ford aus den 1960er Jahren, der auf vielen Postkarten aus dieser Zeit auftaucht und zu dem ebenfalls seit Jahren Suche im Gang ist.

Fisch Nr. 1: „The Most Mysterious Song on the Internet“

In der englischsprachigen Wikipedia beginnt der Eintrag zu dem gesuchten Song folgendermaßen:

„The Most Mysterious Song on the Internet“ (also known as „Like the Wind“, „Blind the Wind“, „Check It In, Check It Out“ or „Take It In, Take It Out“ after verses in some fan-made lyrics) is the nickname given to a new wave song, most likely composed in the 1980s, whose origin, author, name, and original record date are unknown.

Der Einstieg zeigt schon, wie wenig man weiß, aber wieviele verschiedene Bezeichnungen das gesuchte Objekt bereits erhalten hat; die meisten davon sind Ausschnitte aus dem Song-Text. Vermutlich ist der korrekte Titel „Blind the Wind“, zumindest legt das die Tracklist nahe, die bei der Kassette mit der mitgeschnittenen Radiosendung dabei war.

Das Stück wurde vermutlich Mitte der 1980er Jahre im NDR in einer Sendung gesendet; eingespielt und aufgenommen wurde der Song von einer unbekannten Band.

Ende Juni 2019 tauchte die Aufnahme bei Reddit auf und die Suche wurde ausgeweitet, immer mehr Leute machten mit, das Ganze ging viral, journalistische Medien sprangen auf und berichteten, wodurch wieder neue Leute anfingen zu kommentieren… und so weiter und so fort.

Der Song an sich hat meiner Meinung nach sogar ein gewisses Ohrwurm-Potential, aber ist sicher auch nicht spektakulär. Das tut der Suche natürlich keinen Abbruch, vermutlich ist gerade das Typische des Songs der ästhetisch interessante Aspekt, weil dutzende andere Bands in dieser Phase ähnliche Songs schrieben.

Die digitale Detektion via Shazam und Konsorten kommt bei „Blind the Wind“ an ihre Grenzen, denn eine digitalisierte Version existierte bis zur Ausweitung der Suchzone durch Reddit und den Upload auf Youtube offenbar nicht. Es gab also kein „Original“, mit dem der Song digital hätte abgeglichen werden können.

Auch die Suche bei den Verwertungsgesellschaften führte bis dato zu keinem verwertbaren Ergebnis, was viele Gründe haben kann. Das Lied wurde möglicherweise gar nicht registriert oder unter einem anderen, aktuell unauffindbaren Titel; da Interpret*innen und/oder Komponist*innen unklar sind, lassen sich diese auch nicht für Suchbegriffe benutzen.

Es ist zudem ungeklärt, ob die Band noch andere Titel aufgenommen hat oder ob das Stück tatsächlich eine „Eintagsfliege“ war, die vielleicht auf einem Demo-Tape zum NDR gelangte und deren Schöpfer*innen nicht weiter archiviert wurden.

Ich habe den Fall nicht komplett zusammengefasst, es gibt noch deutlich mehr Spuren. Lesenswert ist auch dieser Blogeintrag, in dem die Suche nach dem Song vor Reddit beschrieben ist – lesenswert, weil er zeigt, welche multiplikatorischen Effekte das Forum dann bewirkte.

Insgesamt sind es aber nach wie vor viele, viele Fragezeichen und die Suchbemühungen von vielen Menschen brachten letztendlich keine verwertbaren Ergebnisse, die die Ausgangsfrage beantworten könnten.

Dass sich aber so viele Menschen an einer solchen Suche beteiligen und ihre Ressourcen dafür aktivieren, ist bemerkenswert. Es erinnert mich an die Suche nach dem verschollenen Flugzeug MHD370, an der verschiedene militärische und zivile Organisationen sowie Regierungen zu Wasser, zu Land und zu Luft kooperiert hatten. Die Soziologin Karin Knorr-Cetina bezeichnet die Flugzeug-Suche daher auch als professionelle, distribuierte „Wissenskultur“, was ich sehr passend finde. Der Gedanke ließe sich ausweiten und auf digitale Umgebungen anwenden, denn das Internet ermöglicht eine solche distribuierte Wissenskultur auch für nicht-professionelle Menschen.

Fisch Nr. 2: Der rote Ford Taunus

Der zweite Fall geht in eine andere Richtung, insofern hier nicht ein einziges Musikstück zur Verfügung steht, aus dem sich Informationen ableiten lassen. Sondern es existieren mehrere Aufnahmen des gesuchten Objekts: Ein roter Ford Taunus, der in den 1960er Jahren auf verschiedenen Postkarten auftaucht.

Dem autobegeisterten Sammler Andreas Möller ist aufgefallen, dass auf zahlreichen Postkarten mit Stadtansichten ein- und derselbe rote Ford abgebildet ist (erkennbar am Hamburger Nummernschild) – und zwar immer so geschmackvoll in Stellung gebracht, dass das Auto den Stadtansichten einen visuellen Akzent, „das gewisse Etwas“ verleiht.

Die Vermutung liegt nahe, dass der Wagen also nicht zufällig auf den Bildern erscheint, sondern bewusst in Szene gesetzt und als „Easter Egg“ in die Motive geschmuggelt wurde. Höchstwahrscheinlich von derjenigen Person, die die Aufnahmen gemacht hat und mit dem Wagen von Stadt zu Stadt gereist ist.

Auf diese Weise wird der abgebildete Wagen selbst zu einem Akteur, der durch die Kontexte wandelt und die Orte besucht, gleichzeitig aber auch zu einer Signatur, vielleicht sogar zu einem Stilmittel der fotografierenden Person.

Der einestages-Artikel stammt aus dem Jahr 2013, aber Andreas Möller bestätigt mir am Telefon im September 2020, dass er immer noch auf der Suche nach dem Fotografen oder der Fotografin ist. Bisherige Suchaktionen, etwa die Anfrage beim Hamburger KFZ-Amt zur Überprüfung des gut lesbaren Kennzeichens, führten nicht weiter – in diesem Fall, weil die Behörde die Unterlagen bereits vernichtet hatte.

Die Aufnahmen zeigen Ortschaften in Belgien, Niederlande und Westdeutschland und stammen aus den späten 1960er Jahren. Das bedeutet, die Person, die die Fotos aufgenommen hat und die mutmaßliche Besitzer*in des Wagens war, dürfte heute zwischen 80 und 110 Jahren alt sein.

Mit freundlicher Genehmigung veröffentliche ich die Scans der Postkarten von Herrn Möller auf diesem Blog. Auch beim Spiegel sind alle 21 zu finden, inklusive einiger Erläuterungen.

Bei den Bilder-Rückwärtssuchen von Google und TinEye habe ich es schon versucht – ohne Erfolg, da keine digitalen Entsprechungen der Kalender oder Postkarten existieren oder zumindest im Netz nicht abrufbar sind. Der nächste Schritt wäre wohl, die Bilder auf Reddit zu posten 😉

Grenzen der digitalen Detektierbarkeit: Wenn persönliches Wissen erforderlich wird

Die beiden Fälle zeigen die Grenzen der digitalen Detektierbarkeit auf, wenn keine digitalen Entsprechungen der Suchvorlagen vorhanden sind oder aus anderen Gründen nicht bemüht werden können.

Für mich bedeutet das: Nachdem nun schon so lange und so intensiv erfolglos nach den Ursprüngen der beiden Suchobjekte gefahndet wird, so viele Menschen also schon ihre Wahrnehmung auf die Erkennung gerichtet haben, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass von einer unbeteiligten Stelle die entscheidenden Hinweise eingehen werden.

Wahrscheinlicher ist es meiner Meinung nach, dass persönlich verbundene Menschen, also Kinder, Enkel oder Bekannte der Band bzw. der unbekannten Fotograf*in auf die Suchvorgänge aufmerksam werden. Im Bereich des Samplings sind es in vielen Fällen die Nachkommen, die gesampelte Stücke ihrer Vorfahren erkennen, wie zum Beispiel beim Originalsample von „Die da“ von den Fantastischen Vier (S. 278 in meinem Sampling-Buch).

So eine Art der Auflösung durch das persönliche Wissen der Nachkommen kann ich mir auch in den beiden oben skizzierten Fällen vorstellen – wenigstens solange, wie sich der Bestand der abgleichbaren digitalen Dokumente nicht signfikant ändert.

Felix Stalder schreibt in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ (hier auf S. 105), es sei „abzusehen, dass bald so gut wie alle Texte, Bilder oder Töne in digitaler Form vorliegen werden“. Der Umfang der digitalen Dateien vergrößert sich in der Tat täglich in rasanter Form, aber ich bezweifle, dass alle historischen Dokumente jemals digital vorliegen werden, insbesondere aus dem privaten Bereich. Gerade zwischen Hobby und professionell erstellten Inhalten scheint es eine Schwelle zu geben, die sich nur durch die Aktivierung des Publikums, wie mit Internetforen, überwinden lässt.