Aus der Reihe: Dinge, die ich noch nicht über die Musikindustrie wusste und die ich mir auch nicht ausdenken könnte 😉
Der Techniksoziologie Ulrich Dolata von der Uni Stuttgart hat 2008 einen interessanten Aufsatz über „Das Internet und die Transformation der Musikindustrie“ veröffentlicht. Darin schildert er sehr anschaulich, wie die „Big Five“, also die Majorlabels der Musikindustrie (bis heute hat sich das übrigens auf drei herunterkonzentriert) auf damals noch Branchen-externe Entwicklungen wie Napster und das MP3-Format reagierten. Die grobe Geschichte ist bekannt: Die Musikindustrie versuchte zuerst das Problem zu ignorieren, danach Napster und Filesharing mit allen juristisch verfügbaren Mitteln zu bekämpfen um anschließend ein eigenes Angebot auf den Markt zu bringen. Klappte mehr so geht so. Es gab aber um das Jahr 2000 herum offenbar auch eine Phase, in der man versuchte Napster zu „legalisieren“. Dabei ging einiges drunter und drüber:
Die Versuche der Majors ab 2000, den digitalen Vertrieb ihrer Musik selbst zu organisieren und zu kontrollieren, scheiterten allerdings schnell. Sie waren geprägt durch verpasste Chancen, durch wechselnde Koalitionen und Frontstellungen zwischen den Majors sowie durch die Entwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, die in bemerkenswerter Weise an der Musiknachfrage und den Interessen der Musikkonsumenten vorbeizielten. Die zwei wesentlichen strategischen Varianten der Majors, die die ganze Widersprüchlichkeit und Unzulänglichkeit dieser Versuche zum Ausdruck bringen, sollen hier kurz skizziert werden.
Die erste Variante zielte darauf, das nichtkommerzielle Erfolgsmodell Napster auf legale Beine zu stellen und zu einer kommerziellen Download-Plattform für die Musik der Majors und anderer Firmen umzufunktionieren. Diese Strategie wurde im Herbst 2000 von Thomas Middelhoff, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann AG, vorangetrieben. Zur gleichen Zeit, als die RIAA und die fünf Majors – einschließlich der Bertelsmann-Tochter BMG (!) – versuchten, Napster auf juristischem Weg zu eliminieren, gab der deutsche Konzern Napster ein Darlehen von 50 Mio. Dollar (für das er im Gegenzug die Option einer Mehrheitsbeteiligung erhielt) und versuchte, das technisch gut funktionierende und sozial etablierte Napster-Netzwerk zu einem legalen Abo-Dienst unter seiner Kontrolle umzubauen. Der Versuch scheiterte allerdings am Widerstand der anderen Majors. Sie befürchteten eine Vormachtstellung von Bertelsmann im künftigen digitalen Musikmarkt und blockierten nicht nur das Vorhaben selbst, indem sie die Lizensierung ihrer Musik an Napster verweigerten, sondern weiteten darüber hinaus ihre Schadenersatzklagen gegen Napster auf Bertelsmann aus (Röttgers 2003: 17 ff.; Renner 2004: 153 ff.; Burkart/McCourt 2006: 59 ff.). Als Folge dieser scharfen kompetitiven Frontstellungen der Majors wurde die Chance verspielt, Kontrolle über den digitalen Musikvertrieb durch die kommerzielle Adaptation der führenden nichtkommerziellen Tauschbörse zu erlangen.
(Dolata 2008: S. 353, meine Hervorhebung)